Alvaro Carlevaro / Umbral - Grabstein für A.
Mehrere Andeutungen klingen im Wort „umbral“ an, zu deutsch „Schwelle“ – eine Schnittstelle, die eine gewisse Ambivalenz verkörpert, da sie konkrete gegenüberstehende Objekte, Formen, Situationen, bis hin zu unterschiedlichen Kulturwelten und existenziellen versus nicht existenziellen Dimensionen verbindet und durch solche mehrschichtigen, weil gekreuzten Einflüssen eine imaginäre Identität gewinnt.
Musikalisches, Klangliches, Räumliches werden demnach in Verbindung gesetzt, auch die Bereiche im Konzertsaal, in denen sich der Sänger als sozusagen wandernder Geist in Bezug auf seine Rolle als Interpret/Vermittler und als „Schwelle“ eines Innen (des Publikumsbereichs) und eines Außen (Wände-, Türstrukturen als Raumgrenzen) – diesseits/jenseits? – selbst reflektiert, definiert und darstellt.
Several semantic dimensions are conjured by the word 'umbral', in English: 'threshold'. It is an interface which embodies certain ambivalences, since it connects concrete objects, forms, and situations confronting each other, to the point of different cultural spheres and existential versus non-existential dimensions. By means of such multi-layered, interbred influences it gains an imaginary identity.
Thus, relations among musical, tonal and spacial dimensions are established as much as among the different areas in the concert hall, in which the singer reflects, defines and presents himself as a kind of wandering spirit in regard to his role as interpreter/mediator and as 'threshold' between an inside – the area of the audience – and an outside – walls, doors and the borders of the space.
Snezana Nesic / The Night Song Of Still Standing Times
Dramaturgisch basiert das Stück auf einem Ausschnitt aus Entweder - Oder I von Sören Kierkegaard, der mit den Sätzen beginnt: „Wie unfruchtbar bin ich, wie unfruchtbar sind Kopf und Herz; und dabei doch diese ewigen Wehen gehaltloser, wollüstiger und schmerzlicher Gefühle! Soll sich bei mir das Zungenband des Geistes nie lösen? Bin ich dazu verurteilt, immer zu lallen? ...“
Dieser Text erscheint aber nicht explizit in dem Text des Sängers. Das Stück, bei der jeder Seite der Partitur einer Aussage im Text von Kierkegaard korrespondiert, ist in sieben Teile gliedert, die Tiefen und Höhen der menschlichen Existenz erörtern. Diese widersprüchliche Atmosphäre des Stücks spiegelt die Schizophrenie einer aussichtsloser Verliebtheit des Protagonisten – sein Text ist wiederum eine Art Patchwork, dem Gedichte von Daniil Charms und des Hl. Johannes vom Kreuz sowie meine eigenen Texte zu Grunde liegen. Einerseits behandelt das Stück die Tiefen der Dunkelheit, Verlorenheit, Verlassenheit und Ausweglosigkeit, andererseits besingt es jenes mystisches Licht, das alleine den Ausweg aus der „dunklen Nacht“ zeigen kann und nur im Herzen der wahrhaft Liebenden zu finden ist.
In terms of dramaturgy, the piece is based on an extract of Søren Kierkegaard's Either - Or I, which begins with the sentences: “How fruitless I am, how fruitless are head and heart; but meanwhile these eternal labour-pains of unsubstantial, lascivious and painful emotions! Is my mind's tie of tongues supposed to never loosen? Am I condemned to always babble? ...”
This quote, however, does not explicitly appear in the words performed by the singer. Each page of the score rather corresponds to a proposition in the text by Kierkegaard. The piece is organised into seven parts that consider the depths and heights of human existence. This contradictory atmosphere also reflects the schizophrenia of the protagonist's futile love – his text is a kind of patchwork, to which poems by Daniil Kharms and Saint John of the Cross as well as my own texts contribute. On the one hand, the piece deals with the depths of darkness, lostness, loneliness and hopelessness, on the other hand it sings about the mystic light, only which can show the loophole to the 'dark night' and is exclusively to be found in the hearts of true lovers.
Tom Rojo Poller / OH SOLITUDE | O O I U E
Das Stück basiert auf dem „Song on a Ground“ O Solitude von Henry Purcell. Dessen dreistimmige Bearbeitung bildet auch den Anfang des Stücks, wobei sich die Melodie gleichsam selbst begleitet, da die Begleitstimmen ausnahmslos aus Teilen der Originalmelodie bestehen. Der zweite Teil des Stücks tastet dann im Zusammenspiel von Countertenor und vierkanaligem Zuspiel das Material der Purcell-Vorlage ab. Das hörbare Ergebnis beruht dabei auf einer musikalischen Konstruktion, die die einzelnen Strophen des Purcell-Songs gleichzeitig ablaufen lässt und aus dem überlagerten Materialreservoir immer wieder neue Motiv- und Tonkonstellationen herausfiltert. Zu dieser rein musikalischen Ebene tritt die eigenständige Ebene der Mimik des Countertenors, die – mit Hilfe eines psychologischen Codierungssystems von Gesichtsausdrücken exakt ausnotiert – mit der Musik auf unterschiedliche Weise (kommentierend, kontrapunktierend, affektiv aufladend) interagiert.
The work is based on the “Song on a Ground” O Solitude, by Henry Purcell, and falls into two main parts. The first part, purely electro-acoustical, is set in total darkness. The music consists of a three-part arrangement of Purcell's song, in which the melody, as it were, accompanies itself because all voices from speakers sing material from Purcell's melody. In the second part the composition explores the interplay between the voice, as well as the face, of the countertenor and the four-channel tape. Again the music refers back to Purcell as the material is entirely derived from Purcell's song through selection and recombination. The result sounds like a fragmented and deconstructed version of the Purcell's song whose „Ground“ has become unstable. Along with the music, the facial expressions of the singer also play an important role. By means of a psychological coding system, they are exactly notated, thus forming a communicative layer in their own right that interact with the music in a direct and affective way.
Henry Purcell (Arr: Anne Isenberg) / In Vain We Dissemble
Mis ojos en el espejo
son ojos ciegos que miran
los ojos con que los veo.
(Meine Augen im Spiegel
sind blinde Augen, die die Augen betrachten,
mit denen ich diese sehe.)
Dieses kurze Gedicht entstammt der Feder des spanischen Poeten und Philosophen Abel Martín (1840-1898), den es nie gab. Er ist eine Erfindung Antonio Machados, der einen Essay über das Werk Martíns verfasst hat. Mit den Augen Martíns betrachtet Machado die Dinge und sieht ihm in seinem Essay gleichzeitig beim Sehen zu.
Der Versuch jedoch, des eigenen Blickes habhaft zu werden, ist vergeblich. Die Pupille wird selbst zum Spiegel, ihre Schwärze bleibt undurchdringlich.
Ebenso vergeblich ist der Versuch, mit sich selbst im Duett zu singen – also in die Gleichzeitigkeit zu zwingen, was nacheinander existiert. Da hilft kein Drohen und keine Virtuosität. Beides ist bloße Selbsttäuschung.
Diese Einsicht entsteht vielleicht in der Beschleunigung, vielleicht aber auch erst beim Blick in den Spiegel. Dem Sänger jedenfalls bleibt nichts erspart.
(My eyes in the mirror
are blind eyes which regard the eyes,
with which I see them.)
This short poem was written by the Spanish poet and philosopher Abel Martín (1840-1898).. Martin, in fact, never existed, and was the invention of Antonio Machado who wrote an essay on Martin's oeuvre. Machado views things with the eyes of Martin while observing him seeing in his essay.
The attempt to catch one's own sight is in vain, though. The pupil itself becomes a mirror, impenetrable by means of its blackness.
Equally unavailing is the attempt to sing a duet with oneself, that is to say, coercing into simultaneousness what in fact exists only consecutively. Neither threats nor virtuosity will help here; both are just self-delusion.
This realisation, probably, will come very quickly, however, maybe is just comes when one's own eyes are reflected in the mirror. Yet the singer is spared nothing.
Catherine Milliken / Urge me not!
Einen Auftrag für die Stimme, für den Körper, für die Präsenz auf der Bühne war der Ausgangspunkt, war der Anfangsreiz des Schreibens. Der Reiz musste zurückverfolgt werden:
In die Haut der Aufführenden schlüpfen. Den ersten Ton des Stückes verinnerlichen, den ersten Ton überhaupt finden/ Als Aufführende sucht man nach dem Sinn des Tones und im Körper sucht man nach seinem Ursprung. Man sucht nach dem Warum, dem Wie des Tones. Das Experimentieren, das Suchen mündet organisch in die Aufführung.
So waren meine ersten Notizen für das Stück Urge me not, das Teil der Aufführung von NACKT sein würde.
Außerdem war es reizvoll für mich, meiner Verehrung für den Künstler Daniel Gloger als auch für die Lieder von Henry Purcell, insbesonders Urge me no more, Ausdruck zu geben.
A commission for the voice, the body and for the presence on stage was the starting point, the first incentive for writing this piece. The appeal for me had to be explored:
to slip into the skin of the performer; to internalise the first tone of the piece; to find at all this first tone. As a performer you look for the meaning of the tone and inside the body you look for its origin. You look for the why and the how of the tone. The process of experimenting, of seeking, leads naturally into the performance.
In such a way appeared the first notes I made for the piece Urge me not, which would be part of the performance NACKT.
I was delighted to express my reverence for the artist Daniel Gloger as well as for the songs of Henry Purcell, in particular Urge me no more.
Henry Purcell (Arr.: Anne Isenberg) / Urge Me No More
Bernhard Lang / SolEtude for Re
Bernhard Lang nennt sich nicht neben Purcell, sondern mit ihm als Urheber dieses Stücks: PurcelLang. Auch der Sänger ist in einer Doppelrolle, denn eigentlich singt er ein Duo für Countertenor und Bariton. Aus der Einsamkeit (Solitude) von Purcell wird eine Übung in Mit-sich-selbst-Singen. Die Wiederverwendung und Veränderung vorgefundenen Materials ist ein Prinzip von Langs kompositorischer Arbeit, das bereits im Titel dieses Stücks beziehungsreich verwirklicht ist: die Solitude mutiert zur SolEtude – zur Etüde der Sonne (Sol) für den König (Re) oder der Töne g (sol) und d (re), die dieses Stücks bis zum Ende umspielt.
Vor allem aber ist es eine Etüde aus und für Wiederholungen (Re). Sie nimmt den Song O Solitude von Henry Purcell auseinander und sampelt Takte, Intervalle, Rhythmen und Gesten. Anders aber als beim elektronischen Sampling baut Lang in das Prinzip der Wiederholung auch das der Differenz ein: das Verhältnis von zwei und mehr Tönen oder Pausen wird kreisend verändert (permutiert), regelmäßige Passagen wechseln mit unregelmäßigen ab, Figuren entstehen nach und nach aus der Kombination anderer oder treten plötzlich auf, sie werden gezerrt, zusammengeschoben, beschleunigt und abgewandelt. Sie erscheinen sozusagen immer wieder in neuer Perspektive, werden anders hörbar: Eine Übung im Umgang mit Details. (Asmus Trautsch)
Bernhard Lang doesn't credit himself along side Purcell as author of this piece but rather together with him: PurcelLang. As the authors, the singer also finds himself in a double role, as he actually sings a duet for countertenor and baritone. The loneliness of Purcell's O Solitude becomes an exercise in singing-with-oneself. Reuse and transformation of existing material are principles of Lang's work, which are already embodied allusively in the title of this piece: Solitude mutates into SolEtude – into an etude of the sun (Sol) for the king (Re), or of the tones g (sol) and d (re), which the piece plays with until the end.
Most of all, though, it is an etude out of and for repetitions (Re). It disassembles the song O Solitude by Henry Purcell and samples bars, intervals, rhythms and gestures. In contrast to simple electronic sampling, Lang integrates the principle of difference into repetition: the relationship of two or more tones and pauses is transformed in a subtle way (permuted). Regular passages alternate with irregular ones, figures emerge slowly through combinations of others, or pop up suddenly; they are dragged, pushed together, accelerated and varied. They appear, in other words, always in a new perspective, thereby becoming audible in new ways. Lang's SolEtude for Re is an exercise in the treatment of details. (Asmus Trautsch)
Das Stück stellt sich als ein szenisches bzw. ein Bühnenstück vor, dessen Textvorlage der Schluss der Hamletmaschine von Heiner Müller bildet. Die szenische Hauptidee war ein Monolog aus der Hamletmaschine, ein Selbstgespräch, das ab und zu im Zuspiel reflektiert wird. Die Wörter, Silben, der Atem, die Geräusche sind psychologische Reaktionen des sprechenden Solisten. Die musikalische Idee war ein Prozess, eine Übergang vom entstehenden Atem, Hauch, zu kaum spürbaren Tönen, die ganz langsam (durch den Text) zum Vokal führen. Ein Zerbrechen, Zerfließen, Splittern – fast wie im einem irrealen Zeitraum wird die Geschichte erzählt. Alles bewegt sich wie ein Gedankenfluss, der aus dem Unbewussten kommt. Der Solist ist sowohl Countertenor als auch Schauspieler. Weitere Klangquellen stehen im Dialog mit dem Gesang.
Ich wollte den Stoff so realisieren, dass es immer eine Spieglung, einen Dialog zwischen dem Szenischen und dem Musikalischen gibt, so dass alles, atmend, zu einer Form wird und zugleich ständig aufbricht. Der Titel war mir auch sofort klar, die Idee lag in einem Verzichten von Regeln, festen Formen, Gesangsarten und der Entsprechung von Klang und Wort. Es geht um ein pures nacktes Dasein. „Nackt“-“Rein“, so tritt der Hauptdarsteller wie im Text so auch im Stück, aber mit tiefer psychologischer Dynamik und eigener Persönlichkeit auf.
The piece introduces itself as a scenic or stage piece. Its text is based on the end of Hamletmaschine by Heiner Müller. The main scenic idea was derived from a monologue from Hamletmaschine, a soliloquy that every now and then is reflected by a four-channel tape. The words, the syllables, the breath, and the noises are psychological reactions of the speaking soloist. The musical idea consisted of a process, a transition from the emerging breath, whisper, to hardly recognisable sounds that very slowly (through the text) lead to vowels. Breaking, melting away, splitting – almost the story is being told in an unreal time zone. Everything moves like a stream of consciousness, which arises from the unconscious. The soloist is as much countertenor as actor. Further sources of sound come into dialogue with the singing.
I wanted to realise the subject matter in a way that would always include a mirroring - a dialogue between the scenic and the musical, so that – as with breathing – everything is formed and breaks open at the same time. The title was immediately obvious to me, the idea was to relinquish rules, steady forms, modes of singing and a correspondence between sound and word. It is all about pure, bare existence. “Bare”, “pure” – that's how the main actor appears on stage in the text as well as in the piece, with deep psychological dynamics and his own personality.